GEDICHTE AN BÖHMEN 6
SIE NAHMEN
von Marina Zwetajewa
Die Tschechen traten auf die Deutschen zu und spuckten…
(Vgl. Märzzeitungen 1939)
Sie nahmen schnell und mit Großmannsmut:
Sie nahmen den Berg und was unter ihm ruht,
Sie nahmen die Kohle, sie nahmen den Stahl,
Sie nahmen das Blei, und sie nahmen Kristall.
Sie nahmen den Zucker, sie nahmen den Klee,
Sie nahmen die Ferne, sie nahmen die Näh,
Sie nahmen den Westen, sie nahmen den Nord,
Sie nahmen den Süden und Osten fort.
Sie nahmen den Honig, sie nahmen das Bad,
Sie nahmen das Heu, und sie nahmen den Grat,
Sie nahmen das irdische Eden, jedoch:
Sie nahmen kampflos den Kampf uns noch!
Sie nahmen Geschütz, und sie nahmen Geschoß,
Sie nahmen uns Erze und Freund und Genoss‘ –
Wir haben noch Spucke, und die ist für sie:
Uns ganz zu entwaffnen, das schaffen sie nie.
- Mai 1939
Deutsch von Karl Mickel, aus: Sternenflug und Apfelblüte. Russische Lyrik von 1917-1962. Berlin: Kultur und Fortschritt, 1962.
Die Lyrikzeitung vermerkt dazu: Die Dichterin Marina Zwetajewa, die die deutsche Sprache und Poesie liebte, schrieb dieses Gedicht nach der Einverleibung der Tschechoslowakei durch Deutschland. Am 18. Juni 1939 kehrt sie aus dem Exil in die Sowjetunion zurück. Die Schwester ist im Arbeitslager, am 27. August wird die Tochter, am 7. November der Mann Sergej Efron verhaftet. 1941 erhängt sie sich. Im gleichen Jahr wird ihr Mann erschossen.
via Lyrikzeitung